Jemand, der sich im Umgang mit sich selbst und der Umwelt vorwiegend von seiner Intuition (Fn. S.37), also von unbewussten Wahrnehmungen leiten lässt, wird von der analytischen Psychologie als intuitiver Einstellungstypus bezeichnet. Jung definierte zwei unterschiedliche Untergruppen: Den introvertierten, mehr auf das innere Anschauen gerichteten und den extrovertierten, den stärker nach Außen gewendeten intuitiven Menschen.
Beiden ist eine gewisse Lebensuntüchtigkeit zu eigen, zumindest was die Nützlichkeit für die Gesellschaft in unserer Kultur angeht. Platon beschrieb in seinem Höhlengleichnis die aus dem Lichte Zurückgekehrten als noch immer Geblendete, welche den Schattenspielen in der finsteren Höhle nur wenig abgewinnen und sich daher nur schwerlich daran beteiligen können (vgl. Bd.2). Nach den Erkenntnissen dieser Abhandlung sind Platons vom Licht Zurückgekehrte Menschen des intuitiven Einstellungstypus.
Das Problem für einen introvertierten Intuitiven besteht oft darin, dass er sich innerlich von der greifbaren Wirklichkeit weit entfernt und seine Umgebung dadurch irritiert oder sogar abstößt. Denn da er sich entweder gar nicht oder nur wenig und dann mit fragmentarischem Charakter über das äußert, was er in der physischen Wirklichkeit wahrnimmt oder was ihm dort widerfährt, überfordert er oft die Bereitschaft der anderen, aufmerksam zuzuhören und ihn verstehen zu wollen. So wirkt er oft teilnahmslos oder sogar gehemmt und unsicher und entzieht sich so - meist ohne es zu wissen und zu wollen - einer eindeutigen Beurteilung durch seine Mitmenschen.
Nicht wenige stark Intuitive dürften von Psychologen als schizoid eingestuft werden. Die sogenannte schizoide Persönlichkeitsstörung, welche nicht zu verwechseln ist mit der Schizophrenie oder einer schizotypischen Persönlichkeitsstörung, ist durch Rückzug von affektiven, sozialen und anderen Kontakten mit übermäßiger Vorliebe für - ich zitiere eine despektierliche Formulierung aus Wikipedia - "Phantastereien, einzelgängerisches Verhalten und eine in sich gekehrte Zurückhaltung" definiert. Dass ein in der Gesellschaft unübliches Verhalten nicht als individuelles Charakteristikum, sondern als Störung bezeichnet wird, sagt viel aus über die Qualität der universitären Lehre dieses Fachbereichs.
Dieses zurückhaltende Verhalten der Weitergabe nur spärlicher Informationen aus reichhaltigen Wahrnehmungen erklärt sich daraus,
Dieses Verhalten sorgt dafür, dass die Intuitiven unterschätzt und nicht richtig begriffen werden. C.G. Jung - selbst ein intuitiver Einstellungstypus - beschrieb dies in treffend Übereinstimmung mit Roberts Auffassung so:
"Im Grunde genommen sind mir nur die Ereignisse meines Lebens erzählenswert, bei denen die unvergängliche Welt in die vergängliche einbrach. Darum spreche ich hauptsächlich von den inneren Erlebnissen. Zu ihnen gehören Träume und Imaginationen. Sie bilden zugleich den Urstoff meiner wissenschaftlichen Arbeit [...] Neben den inneren Ereignissen verblassen die anderen Erinnerungen, Reisen, Menschen und Umgebung [...] Die Erinnerung an die äußeren Fakten meines Lebens ist mir zum größten Teil verblasst. Oder entschwunden. Aber die Begegnungen mit der anderen Wirklichkeit, der Zusammenprall mit dem Unbewussten haben sich in mein Gedächtnis unmittelbar eingegraben. Da war immer Fülle und Reichtum, und alles andere trat dahinter zurück." [Lit 136]
C.G. Jung kam schon früh in seinem Leben zur Einsicht, dass Antworten und Lösungen auf die "Verwicklungen des Lebens" von innen her kommen müssen. Wenn es sie dort nicht gibt, seien die Verwicklungen bedeutungslos und nicht Wert, beachtet zu werden. Nach seiner und Roberts Auffassung sind nur innere Zustände bedeutsam. Es ist weitaus wichtiger, was wir fühlen als was wir machen [Roberts]: [Lit 136]
"Darum ist mein Leben arm an äußeren Ereignissen. Ich kann nicht viel davon erzählen; denn es käme mir leer und wesenslos vor. " [Lit 136]
Ein nicht intuitiver Einstellungstypus wird dagegen sein Leben in der Retrospektive an äußeren Ereignissen und Erlebnissen festmachen. Jede Ehrung, jeder äußere Erfolg ist ihm des Erinnerns wert. Zwischen den Menschen unterschiedlicher Wahrnehmung gibt es jedoch jede denkbare Abstufung dem Grade nach.
Der zweite intuitive Einstellungstypus ist nach C.G. Jung der extrovertierte Intuitive. Er ist immer da, wo Möglichkeiten vorhanden sind und dabei nur selten auf Linie mit den im jeweiligen Kulturkreis anerkannten Werten. Die gegenwärtige Realität bedeutet ihm nur das Sprungbrett zur nächsten, er ist ganz auf das Zukünftige ausgerichtet, für das er ein feines Gespür hat. Stabile gesicherte Verhältnisse empfindet er als erdrückend. [Lit 136]
Die Gefahren, denen der intuitive Einstellungstypus ausgesetzt ist, bestehen vor allem darin, dass er von der Fülle der Möglichkeiten, die er ständig vor sich sieht, überschwemmt wird und sich handlungsunfähig fühlt. Er fängt dies und das an, führt aber nichts zu Ende, weil er ein eigentliches Ende gar nicht erkennt, sondern alles mit allem verbunden sieht. Deshalb bringt er auch kein System in seine Tätigkeiten, sondern verzettelt sich. Auf diese Weise kann jemand, der an sich wertvolle Mitteilungen zu machen hätte, seine Umwelt nicht oder nur ungenügend erreichen. So wird er missverstanden und man hört ihm nicht lange aufmerksam zu. Soweit Jung. [Lit 136]
Nach seiner Auffassung befindet sich das Selbst in einem konstanten Prozess der Entwicklung, in der übermäßige Introvertiertheit oder Extrovertiertheit Stadien der Unreife darstellen. In einer normalen Entwicklung würden wir dazu neigen, mit zunehmendem Alter die verschiedenen Aspekte der Persönlichkeit auszubalancieren.
Nach meiner Auffassung jedoch - angelehnt an Platons und Schopenhauers Erkenntnisse - ist der übermäßig Introvertierte derjenige, welcher den höchsten Grad der Vernetzung mit der geistigen Welt erreicht hat. Sein inneres Erleben ist derart intensiv, dass die äußere Wirklichkeit für ihn entsprechend an Bedeutung verliert. Das verringert seine Nützlichkeit für die Gesellschaft, in welcher er lebt. Darum vermutlich war Jung lebenslang damit beschäftigt, seinen intuitiven Zustand in Einklang mit den Anforderungen der Gesellschaft zu bringen [Lit 136].
Diese intuitiven Einstellungstypen besitzen also eine ausgeprägte innere Identität und nur eine schwache äußere. Bei den Nicht-Intuitiven ist es umgekehrt. Die ausgeprägte innere Identität bezeichnet ausgezeichnete Verbindungen des Wachbewusstseins zu seinem höheren Selbst. Es bedient sich ohne übermäßige Filterung durch den Verstand der inneren Sinne. Umgekehrt bezeichnet eine ausgeprägte äußere Identität schwache Verbindungen des Wachbewusstseins zum inneren Selbst, was aus hinderlichen Glaubenssätzen und übermäßiger Verstandesorientierung resultieren mag.
Doch worauf beruht die inneren Identität? Hierzu Schopenhauer etwas ausführlicher:
"Nicht auf der Materie des Leibes; sie ist nach wenigen Jahren eine andere. Nicht auf der Form desselben: sie ändert sich im Ganzen und in allen Teilen; bis auf den Ausdruck des Blickes, an welchem man daher auch nach vielen Jahren einen Menschen noch erkennt; welches beweist, dass trotz allen Veränderungen, die an ihm die Zeit hervorbringt, doch etwas an ihm völlig unberührt bleibt: es ist eben dieses, woran wir auch nach dem längsten Zwischenraume ihn wiedererkennen und den Ehemaligen unversehrt wiederfinden; ebenso auch uns selbst: denn wenn man auch noch so alt wird, so fühlt man sich doch im Innern ganz und gar als denselben, der man war, als man jung, ja als man noch ein Kind war. Dieses, was unverändert stets dasselbe bleibt und nicht mitaltert, ist eben der Kern unseres Wesens, welcher nicht in der Zeit liegt. Man nimmt an, die Identität der Person beruhe auf der des Bewusstseins. Versteht man aber unter dieser bloß die zusammenhängende Erinnerung des Lebenslaufs, so ist sie nicht ausreichend. Wir wissen von unserem Lebenslauf allenfalls etwas mehr als von einem ehemals gelesenen Roman; dennoch nur das allerwenigste [...] Je älter wir werden, desto spurloser geht alles vorüber. Hohes Alter, Krankheit, Gehirnverletzung, Wahnsinn können das Gedächtnis ganz rauben. Aber die Identität der Person ist damit nicht verlorengegangen. Sie beruht auf dem identischen Willen und dem unveränderlichen Charakter desselben. Er eben auch ist es, der den Ausdruck des Blicks unveränderlich macht."
Schopenhauer bestätigt mit diesen Worten, dass die innere Identität und der Charakter einer Person von dessen Lebenslauf und allen Einflüssen aus der physischen Welt der Erscheinungen unabhängig sind. Hierauf gehe ich im Band 6 vertiefend ein.
Der Charakter nun ist Ausdruck des spirituellen Erkenntnisstandes (vgl. Bde. 6 & 8) einer Identität. Somit kann man aus ihrer Willensstärke respektive ihrem Charakter den Grad des jeweiligen intuitiven Einstellungstypus ablesen. Ein stark intuitiver Einstellungstypus verfügt über einen nur schwachen Willen und umgekehrt. Ein weiterer Aspekt ist Schopenhauers Hinweis, dass das höheres Bewusstsein des eigenen Selbst völlig unabhängig vom physischen Körper besteht.
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