Der Mensch unseres Zeitalters ist weitgehend der kollektiven Weltsicht verfallen, dass das Leben ein Kampf sei, dass eine harte Auslese im Sinne der konventionellen Evolutionstheorie stattfindet und nur der in irgendeiner Hinsicht Stärkere überlebt (vgl. S.154). Diese unrichtige Annahme entfernt ihn vom Streben nach Werterfüllung, das ansonsten in allem Seienden zutiefst wirksam ist.
Heutige Medien, berufliche Übermotivierung und politische Schachzüge stützen scheinbar seine These, wenngleich ein jeder dieses Streben nach Werterfüllung zumindest im privaten Umfeld für sich und seine Nahestehenden auslebt. Roberts (Seth) schreibt hierzu:
"[...] wie könnt ihr euch mit Selbstrespekt, mit Würde oder Freude ansehen, wenn ihr glaubt, dass ihr das Endergebnis eines Prozesses seid, in dem die Geeignetsten überlebten? Die Geeignetsten, das impliziert jene, die [...] am meisten zu mörderischen Absichten neigen - denn ihr müsst auf Kosten eurer Mitgeschöpfe, sei es ein Blatt, ein Frosch, eine Pflanze oder ein Tier, überleben. Dieser Theorie nach überlebt ihr nicht durch Kooperation, und auch wird der Natur keine freundliche oder schöpferische, sondern eine mörderische Absicht zugesprochen. Und wie könnt ihr von euch, wenn ihr euch als das Endresultat einer solchen Spezies betrachtet, Güte oder Verdienste oder Kreativität erwarten, oder von anderen?" [Lit 191]
Wie schon im Abschnitt über Wahrscheinlichkeitslinien erwähnt, weist uns Roberts in ihrem letzten Werk zur unbekannten Realität darauf hin, dass wir in unseren Alltagskontakten regelmäßig mit wechselnden parallelen Ichs anderer Wahrscheinlichkeitslinien und Wahrscheinlichkeitssysteme umgehen und kommunizieren (vgl. S.118). Der alte Freund, die Nahestehenden, Nachbarn und Kollegen kommen immer wieder nach Erfordernis der kreuzenden Ereignisse, Einstellungen und Erwartungen für jeden gegebenen Gegenwartsmoment aus deren gerade passenden Wahrscheinlichkeitslinien und -systemen auf uns zu. [Lit 191]
Jeder Gegenwartsmoment ist nach ihrer Auffassung der Schnittpunkt aller Wahrscheinlichkeiten und Wahrscheinlichkeitssysteme. So bildet sich ein gegebener Gegenwartsmoment erst aus deren Schnittmenge, so dass passende Ereignisse aller ähnlichen Wahrscheinlichkeitslinien in unsere Realität fallen können, sofern die kausalen Zusammenhänge halbwegs passen. Die Menschen seien jedoch daran gewöhnt, alle hierauf hinweisenden Unstimmigkeiten zu ignorieren, um ihr begrenztes Weltbild von einem abgeschotteten Realitätssystem aufrecht zu erhalten:
Jede in Gegenwartsmomenten wahrgenommene Raum-Zeit-Umwelt ist also Schnittpunkt völlig unterschiedlicher, wahrscheinlicher, paralleler Entwicklungsstränge der individuellen und kollektiven Geschichte. Alles von uns Wahrgenommene fällt aus diesen unterschiedlichen Entwicklungssträngen dynamisch in unsere Wahrnehmung hinein. Ändern wir ein wenig unsere Einstellung oder Weltsicht, ändern sich sofort die Ereignisse und Kontakte, die wir akzeptieren. Wie meine Sicht auf die Dinge, so ist meine Welt.
So nehmen wir zwar auch Entwicklungen in parallelen Wahrscheinlichkeitssystemen wahr, doch können wir diese ignorieren, wenn sie nicht unseren Absichten entsprechen. "Ignoriere ein Problem, und es wird verschwinden", sagt Roberts verkürzt, aber treffend.
Darum ist es verkehrt, sich an in der Welt wahrgenommenen Ungerechtigkeiten und Fehlentwicklungen aufzureiben. Denn es ist in der Hand eines jeden, über seine Sichtweise den individuell wahrgenommenen Weltlauf zu beeinflussen.
Nun folgt ein weiterer Aspekt. Die Psyche sät sich, wie Roberts schreibt, in viele Wahrscheinlichkeiten aus. Daraus folgt, dass sich Zeit nicht nur linear vorwärts und rückwärts(!), sondern auch - um in diesem Bild zu bleiben - seitwärts von jedem erlebten Gegenwartsmoment ausbreitet. Unsere Handlung und Einstellung jedes gegebenen Moments beeinflusst und verändert so nicht nur unsere Vergangenheit und Zukunft, sondern auch unsere parallelen Selbst auf deren Wahrscheinlichkeitslinien. [Lit 191]
Jedes Selbst ist eine gewaltige Blüte mit vielen Blütenblättern, welche das Gesamtselbst um ihre Erfahrungen bereichert. Man müsse also
herumgehen, um alle sich gegenseitig beeinflussenden Manifestationen dieses Selbst wahrzunehmen. [Lit 191]
Eine Ausdehnung des Selbst über alles Seiende dieser Sphäre könnte zu der Erkenntnis führen, dass ein jeder Mensch jedes menschliche Leben aller Zeiten lebt, was bedeuten würde, dass wir Menschen letztlich nur mit Konzepten und Eigenschaften experimentieren, jedoch alle All-das-was-ist angehören, innerhalb dessen sich alles, was für uns ist, abspielt.
Unsere Geschichte ist folglich nicht als isoliertes, abgeschottetes Konstrukt zu denken, sondern als dynamisches Puzzle aus akzeptierten Ereignissen aller halbwegs passenden Wahrscheinlichkeitssysteme. Aufgrund dieser Dynamik ändert sich im Zeitverlauf auch die akzeptierte Geschichte. Alles Seiende tanzt in seinem physischen Sein unablässig durch ungleiche Realitätssysteme, Brüche nur bemerkend, wenn Logiklücken markant sind. Im Band 4 gehe ich hierauf im Abschnitt zu Emersons Lebensfäden tiefer ein.
Emersons Lebensfäden sind also, so stellen wir hier fest, Roberts Wahrscheinlichkeitslinien. Beide bezeichnen alternative Verläufe in endlosen Abstufungen auf einer horizontalen "Entwicklungslinie" [Roberts], auf der sich alles Seiende als vollgültige Existenz erfährt. Aus der Dynamik wechselnder Wahrscheinlichkeiten bildet sich in jedem Gegenwartsmoment eine leicht variierte Vergangenheit und Zukunft, so dass 'wir' nach einigen Jahren nicht mehr dieselbe Geschichte haben.
Im Grunde sind die Unterschiede gigantisch, die Variationen jede für sich erheblich. Doch die scheinbar konstante Umgebung vermittelt uns ein Kontinuitätsgefühl, welches trotz des dynamischen Systems stets Sicherheit und Stabilität suggeriert. Wir können uns darauf verlassen, dass an jedem Morgen die Sonne aufgeht und Abends untergeht, dass Jahreszeiten wechseln und Naturgesetze scheinbar unveränderlich wirken. Auch die Häuser und Gärten der Nachbarschaft stehen scheinbar unverändert an derselben Stelle.
In dieser Geborgenheit ziehen unsere Glaubenssätze, unsere emotionalen Gedanken und unsere tiefen Erwartungen die entsprechenden Ereignisse und Entwicklungen an und geben ihnen Energie. Roberts schreibt:
" [...] und oftmals ist das, was von euch als Inspiration erlebt wird, ein Gedanke, der von einem anderen Selbst gedacht, aber nicht in die Tat umgesetzt wurde [...] Vorstellungen, die ihr habt, ohne von ihnen Gebrauch zu machen, können auf die gleiche Weise von anderen wahrscheinlichen Selbsts aufgegriffen werden." [Lit 191]
Selbst derjenige, welcher sich für dreißig Jahre in seinem Zimmerchen einschließt, unterliegt den realitätsverändernden Einflüssen seiner anderen Simultanselbst (vgl. S.124 & 379) und den Stimmungen und Gedankenkonstruktionen seiner Nachbarn. Auch wenn er ihnen nicht begegnet. Wir können nicht nicht in alle Richtungen kommunizieren.
Treffen wir auf Mitmenschen, Haustiere oder sonstiges Seiendes, hat jedes eine Abfolge von im Vergleich zu den Unsrigen variierten Ereignissen hinter sich und interpretiert demzufolge seine Vergangenheit auf andere Weise. Wir erlebten folglich nur scheinbar die Ereignisse, welche wir in jedem gegebenen Gegenwartsmoment als Erinnerung akzeptieren.
Die Abstimmungen untereinander gehen so leicht von der Hand, weil ein jeder seine Absichten ausstrahlt und diese von tangierten Anderen aufgefangen werden. [Lit 191]
Wir prägen Wohnungen, Häuser und Gegenstände mit unserer eigenen Bewusstseinsenergie, nehmen hierüber ganze Stadtviertel in unsere geistige Obhut. Die kollektiven Energien einer Straße, eines Viertels, einer Stadt oder eines Landes sind somit höchst individuell. Wenn wir in eine neue Wohnung umziehen, sind wir den Energien der Vorbewohner, den Gedankenkonstruktionen der Nachbarn und der kollektiven örtlichen Psyche ausgesetzt. Wir prägen in den ersten Wochen die neue Umgebung mit unserer eigenen Energie, setzen gleichsam unseren Stempel über die schon vorhandenen auf. So verfügen unterschiedliche Länder, Städte, Stadtviertel und Häuser über völlig unterschiedliche Stimmungen. [Lit 191]
Ein Kapitel zurück | Inhaltsverzeichnis | Zum nächsten Kapitel