Mit unseren Freunden oder mit unserer Suche nach ihnen versuchen wir, die Intimität und das Gemeinschaftsgefühl zu finden, welches wir in der Kindheit erlebten und ansonsten erst posthum in der Reflexionspause zwischen Lebenszyklen wiederfinden könnten. Wir wollen nach Hause.
Doch warum definieren Freunde ihr Verhältnis nur am Anfang nach dem erwarteten künftigen, später jedoch nur nach dem vergangenen Zustand ihrer Beziehung? Zu Anfang blickt man perspektivisch in die Zukunft und definiert seine Erwartungen an diese Freundschaft. Im Laufe der Zeit reduzieren sich derartige Überlegungen und manche Freundschaft nährt sich nur noch von dem, was sie in der Anfangszeit einmal war. Solche statisch erstarrte Freundschaften zerbrechen, wenn sich ihr Fundament verändert.
"Weist du, wie selten es in unserer Familie ist, dass man die Momente des Triumphs miteinander teilt?", lautet ein schönes Filmzitat. Familien sollten diese Augenblicke zeitnah gemeinsam zelebrieren. Mit Freunden oder gar Bekannten verhält es sich anders. Denn Erfolge sind nur Erfolge in dem persönlichen Empfinden der individuellen Persönlichkeit und seiner Familienpsyche. Selbst engste Freunde und manchmal auch der Lebenspartner sind emotional außen vor. Sie spielen zwar hervorragend die Begeisterten, meinen aber bestenfalls die Möglichkeit zum Feiern.
Darum ist es nahezu unmöglich, diesen nur innerhalb der Familienpsyche empfundenen Erfolg mit auch nur einem anderen, nicht zur Familie gehörigen Menschen zu teilen. Wenn der Freund oder Bekannte nicht genau die gleichen Leiden durchlebt hat und in just diesem Moment genau in der gleichen Stimmung ist, wird er die Freude über den Erfolg mehr oder weniger vortäuschen. Auch dies spielt hinein in das Gefühl der Einsamkeit des Gastgebers am Ende einer Party. Denn das innere Selbst nahm die erwartete, aber fehlende Übereinstimmung wahr.
Im unbelasteten Familienverbund sind Stolz, echte Freude und ein beruhigt sein über den Erfolg eines Familienmitglieds, dass einen Meilenstein in seinem Leben erreicht hat, möglich. Denn Familienmitglieder sind immer in irgendeiner Weise daran beteiligt. Es gibt eine Familienpsyche, in der Belastungen und Aufgaben in freier Wahl verteilt sind (vgl. Bd. zero & S.366).
Die uns fördernden, nach innen gerichteten Teile unseres persönlichen Selbst freuen sich uneingeschränkt über unseren Erfolg und lassen uns dies fühlen. Daraus resultiert ein tiefes inneres Glücksgefühl im stillen, nach innen gerichteten Genießen des Triumphs.
Zurück zur Freundschaft. Schopenhauer beschreibt zwei Arten von Freundschaft: die echte, auf ideellen, d.h. auf Ähnlichkeiten der Gesinnung, der Geisteskräfte, der Denkungsart und des Geschmacks beruhende und die reelle, d.h. die auf Berechnung und ein materielles Interesse beruhende Freundschaft. Letztere verdient im Grunde nicht den Titel 'Freundschaft' - solche Beziehungen sind Zweckbekanntschaften. Die ideelle Freundschaft beschreibt er als so selten wie die echte innige Liebe, denn die wahre, echte Freundschaft setzt eine starke, rein objektive und materiell völlig uninteressierte Teilnahme am Wohl und Wehe des andern voraus, ein wirkliches sich mit dem Freund identifizieren.
Dies fehlt schon, wenn der andere beim Zeigen einer Schwäche auftrumpft oder sonst wie erstarkt. Der Philosoph und Soziologe Theodor. W. Adorno sagte treffend:
"Geliebt wirst Du dort, wo Du Schwäche zeigen kannst, ohne Stärke zu provozieren."
In diesen echten Freunden, die einander nichts vormachen und sich einschätzen können, spiegelt sich beider Bewusstsein. Sie bestätigen uns in unserem und trotz unseres mängelbehafteten Selbst und ergänzen uns durch Anregung und Reflexion. Deshalb sterben mehr Freundschaften an fehlendem oder im Laufe der Zeit einseitigen Austausch als an Verrat oder Langeweile. Denn selbst im Verrat ist uns irgendwie klar, dass wir uns selbst verstoßen, wenn wir uns trennen.
Insofern verliert man keine Freunde, sie gelangen nur gelegentlich durch Rückzug oder Wegzug außer Reichweite. Tauchen sie, manchmal erst nach Jahren, wieder auf, ist die Beziehung so lebhaft und tief gefühlt, als wären sie nie fort gewesen. Wenngleich Freundschaften durch jahrelange Abwesenheit - wie Schopenhauer sagt - zu abstrakten Begriffen vertrocknen, wodurch unsere Teilnahme mehr und mehr eine bloß vernünftige, traditionelle wird.
Es scheint, als wenn sich Freundschaften wie auch die wahre Liebe mehr zwischen den inneren Selbsts abspielen und die physische Welt der Erscheinungen samt der involvierten Wachbewusstseine nur die Theaterbühne für die inneren Auftritte ist. In der Liebe wie in der ideellen Freundschaft sehen wir den anderen als Ganzes, wollen ihm innen wie außen nah sein; lieben wir dagegen nicht, sehen wir nur die äußerliche Hülle des anderen, die Clown-Maske seiner Karikatur, und sind innerlich nicht berührt. Ein Beispiel aus der Kindheit:
Wir - alte Ferien-Freunde aus Kindertagen - hatten in unserem letzten gemeinsamen Sommer unsere Bewusstseine verknüpft zu einem gemeinsamen Zelt, das uns umschloss und uns die Einheit des Lebensgefühls gab, den identischen Ton des Fühlens. Es war, als ob wir alle gemeinsam unter einer Obhut standen, der gemeinsamen Obhut unserer Selbst (vgl. S. 58). Diese Obhut löste sich erst spürbar und kontinuierlich auf, als ich im Wagen meiner Eltern saß und wir den Ort verließen - unter den wehmütigen freundlichen Blicken meiner Freunde, die etwas später abfuhren.
So bilden alle absichtslosen ideellen engen Freundschaften Netze der Obhut des Geistes. Sie unterliegen keinem auch nur im Ansatz selbstsüchtigen Willen. Im Gegenteil (zer)stört ein jeder in die Beziehung eingebrachte Wille diese gemeinsame absichtslose Obhut, weshalb Negativität jeder Art in ihr keinen Platz hat. Weil jedoch diese Obhut an gedankliche intensive Nähe gebunden ist, können sich auch diese idealen Freundschaften wie oben beschrieben auseinander leben. Denn was nicht gelebt wird, erstarrt in seinem letzten Zustand.
So kann man derartige Inseln in gegenseitiger Anziehung verbundener Bewusstseinsenergien durchaus als solche der Glücksseligkeit bezeichnen. Denn ohne Wollen, Zwang und Negativität fühlen wir uns in ihnen dem Himmel so nah wie unter keinen anderen Umständen sonst innerhalb eines physischen Lebens. Denn die physische Existenz ist ansonsten eine recht einsame. Der Kampf gegen die zwei konträren Hauptübel Not und Langeweile läuft fast ohne Unterlass, und nahezu jede Beziehung unterliegt mehr oder minder ausgeprägt egoistischen Motiven, ist also nicht frei von eigensüchtigen Absichten, unterliegt somit einem Wollen [Schopenhauer].
Wird dort geholfen oder gar vordergründig selbstlos mit großen oder auch sparsamen Gesten geschenkt, dann in der Berechnung eines anderweitigen Vorteils. 'Eine Hand wäscht die andere' ist hier das Motto. Nehme ich dich auf meine Dauerkarten mit zum Fußballspiel, weil meine Frau keine Zeit hat, dann erwarte ich eine Gegeneinladung zum Grillen oder wenigstens eine Aufmerksamkeit als 'Dankeschön' - sage es aber nicht. Wir erkennen versteckte Bedingungen erst am zugeknöpften Verhalten des Gebenden, wenn jeglicher Ausgleich ausbleibt. Dann ist es keine Freundschaft, sondern eine Zweckbekanntschaft - Freunde stellen keine Ansprüche, sie vertrauen sich einfach.
Aus der Erwartung des Ausgleichs entsteht im Schuldner - sobald er sich dessen bewusst wird - das Bewusstsein der Abhängigkeit. So mutiert die Beziehung zu einen Zustand, in der der eine Herr, der andere Sklave ist.
Wenn wir dann ein- oder zweimal im Leben Beziehungen haben, die von diesem Druck vollkommen frei sind, spüren und erahnen wir, was uns im Lebenskampf fehlt: Nämlich der absichtslose selbstlose freundliche Kontakt zu anderen mit ähnlichen Einstellungen und Sichtweisen, eine Homogenität des Bewusstseins. Letztlich fehlt uns ein um solche Beziehungen erweitertes Bewusstsein, ein Aufgehen mit anderen in etwas, das größer ist als wir selbst und frei von Berechnung ist.
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